Blog
Um die Impulse der Vorträge über den Tag hinaus zu dokumentieren, gibt es einen Blog zur Veranstaltung. Nach jeder Sitzung präsentiert Frank Uekötter als Koordinator der Ringvorlesung an dieser Stelle eine kurze Bilanz von Vorträgen und Diskussionen, verbunden mit ein paar persönlichen Nachgedanken. Wenn Sie Nachfragen oder Kommentare zu diesen Bemerkungen haben, schreiben Sie bitte eine Email an Frank Uekötter.
30. November
Gewaltenteilung ist eine gute Idee, aber in diesem Blog kommt sie bislang nicht zur Anwendung. Dies ist bis auf weiteres ein Bericht aus der Tastatur des Organisators dieser Ringvorlesung, der im Übrigen einen gewissen Ruf für eine gewisse Meinungsfreudigkeit hat. Inzwischen erreichen mich die ersten Emails mit Kommentaren, die selbstverständlich vertraulich behandelt werden, aber vielleicht darf ich an dieser Stelle noch einmal betonen, dass dieser Blog auch für Beiträge von LeserInnen und TeilnehmerInnen offen ist. Sofern es nicht völlig unseriös ist, geht es hier ohne weiteren Kommentar online. So machen das Wissenschaftler, die mal in jungen Jahren die Habermasische Diskursethik aufgesogen haben.
Das Thema steht mir momentan besonders eindringlich vor Augen, weil ich am Dienstag auf eine ganz besondere PowerPoint-Folie schaute. Die drei KollegInnen aus der Mediävistik, die in der Sitzung gemeinsam auftraten, hatten meine 10 Thesen anscheinend besonders intensiv gelesen und bereitwillig in ihre Präsentation integriert, und so kam dann Folie 7: oben These 3 aus meinem Papier, darunter fünf Thesen aus dem „Dictatus papae“ von Papst Gregor VII, darunter als These 22 die Aussage, dass sich die katholische Kirche niemals geirrt hat und auch niemals irren werde. Der „Dictatus papae“ wird gerne als eine Art Regierungsprogramm des machtbewussten Gregor zitiert, der kurz darauf den Investiturstreit vom Zaun brach, aber eigentlich ist es nur ein Papier unbekannter Provenienz und Absicht, das sich in der Korrespondenz des Papstes fand. Matthias Weber sprach von einem „Schmierzettel“, woraufhin ich mir vornahm, Schmierzettel konsequenter in das Altpapier zu geben. Es irritiert die Leute halt doch sehr, wenn man da mal etwas unbedacht aufschreibt. Auch wenn ich ganz sicher nie etwas über meine eigene Unfehlbarkeit notiert habe.
Wenn es um den Anspruch von Ordnung geht, spielt die Una Sancta Catholica offenkundig in einer ganz eigenen Liga. Da gibt es entweder die Rückbesinnung auf vergangene „ideale Ordnungen“ – das Urchristentum war halt schon ganz prima – oder die kommende himmlische Ordnung. Es ist doch immer wieder beeindruckend, was sich die Männer der Kirche da nach intensiver Lektüre der Heiligen Schrift so einfallen ließen. Manuel Kamenzin brachte Joachim von Fiore ins Spiel, der die Vorstellung formulierte, dass das Ende der Welt nach 1000 Jahren Frieden kommen würde. Inzwischen liest man nicht mehr ganz so gerne von Tausendjährigen Reichen, weil der Zeithistoriker weiß, wie sowas schief gehen kann, aber das hätte ja immerhin den Charme, dass wir Historiker noch ausgiebig Zeit bekämen, das Werk der Erdenmenschen zu analysieren und bewerten. Aber vermutlich gibt es der Monumenta Germaniae Historica auch nach einem vollen Jahrtausend immer noch eine Edition, die einfach nicht fertig wird.
Die Wirklichkeit fällt da zwangsläufig ein wenig ab, allen Bemühungen um Kirchenreform und Erneuerung zum Trotz. Das Chaos war nie weit im Mittelalter, obwohl es sich immer noch steigern ließ: mit Häretikern, mit dem Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst, mit der Gewalt des Mobs. Das musste auch nicht zwangsläufig im Widerspruch zum religiösen Skript stehen. In der Offenbarung des Johannes erschien Unordnung als letzter notwendiger Schritt zum Jüngsten Gericht.
Da war sie wieder, die Dialektik zwischen Ordnungsentwürfen und unordentlichen Realitäten, die uns in dieser Veranstaltung schon öfters begegnete. Nur zu leicht bleibt man da diskursiv stecken. Vielleicht sollten wir mal systematischer nach Gegenbegriffen zu Ordnung fahnden? Oder Ordnung eher als Teil eines weiteren Wortfeldes betrachten, in dem man mal etwas herumstreifen sollte? Es wird doch auf Dauer etwas schematisch, wenn wir da stets mit einem schlichten Gegensatzpaar operieren.
Von daher habe ich besonders intensiv zugehört, wenn in den Vorträgen vom Dienstag die Mehrschichtigkeit von Ordnungen erkennbar wurde. Etwa bei Katharina Mersch, die über Mobgewalt gegen Häretiker sprach. Ein Lynchmord ist offenkundig ein Paradebeispiel situativer Unordnung, aber wenn man über den gerechten Eifer („zelus“) spricht, der Menschen zu solchen Handlungen animiert, wird die Sache komplizierter, denn der mordende Mob war, Teufel aber auch, zugleich das „Volk Gottes“. Die Lynchjustiz geschah Übrigens offenkundig gegen den Willen des Klerus. Mersch erwähnte die These, die Inquisition habe die rohe Mobgewalt durch die Herrschaft des Rechts ersetzt, aber das läuft letztlich auf eine Aufwertung der Ketzerverfolgung hinaus. Letztlich erschien Mersch die Frage nach Intentionen und Intentionalität sowie die Zuschreibung von Intentionalität spannender. Da fehlt dann plötzlich der archimedische Punkt, und Intentionen, Zuschreibungen, kirchliche Hierarchien und göttliche Ordnungen kommen ins Tanzen. Und vielleicht ist dieser Fragehorizont ja auch in Zeiten lohnend, in denen man nicht mehr darüber redete, wie Häretiker freudig in den Tod gehen.
Vielleicht sollten wir auch mehr über Ordnung in eng umgrenzten geographischen und zeitlichen Räumen reden und damit das potentiell Universale jeder Ordnungsvorstellung unterlaufen. In der Diskussion erwähnte Mersch, dass der neue und expandierende Lebensraum Stadt seit dem 11. Jahrhundert als Hort radikaler Unordnung galt. Kamenzin wies darauf hin, dass die vielzitierte Angst vor dem Jahr 1000 auf einer Handvoll Belegstellen basierte, die keinesfalls verallgemeinert werden sollten. Außerdem erwähnte er spätmittelalterliche Verfassungsspiele, in denen der Bauer zum König wurde – aber jedem klar war, dass diese neue Ordnung nicht für die Ewigkeit gedacht war. Übrigens schuf auch die Goldene Bulle nur bedingt Regelhaftigkeit. Friedrich III. hatte am Ende seines Lebens das Gerücht gestreut, er horte einen Schatz (wohl um die eigene Kreditwürdigkeit zu erhöhen), und so machte man sich allenthalben auf die Suche und kümmerte sich nicht groß darum, dass erst einmal nach der Goldenen Bulle der Erzbischof von Mainz den Tod zu verkünden habe.
Wer glaubt, das Leben würde mit religiöser Inbrunst ganz gewiss ordentlicher, war vermutlich am Ende dieser Sitzung enttäuscht. Auch in einer tiefreligiösen Ordnung kann das Gegenteil von Ordnung semantisch und alltagspraktisch sehr vielfältig sein. Und wenn es mit der Glorifizierung von Ordnung schon im Mittelalter so eine Sache war, sollten wir Ordnungsentwürfe vielleicht auch in aufgeklärteren Zeiten etwas weniger verklemmt interpretieren.
20. November
In dieser Woche stand die Lehre im GA-Gebäude im Zeichen der „Democracy Week“, und die Ringvorlesung machte weiter ihr Ding. Die sehr willkommene Initiative kam erst, als unser Programm schon feststand, und es ist wohl hoffnungslos, Timur, die Schlüsselperson im Vortrag von Markus Koller, irgendwie im Kosmos der modernen partizipatorischen Demokratie zu diskutieren. Bei den Osmanen, die Markus als Kontrastmodell diskutierte, waren die Untertanen immerhin aufgefordert, Beschwerden an den Sultan zu adressieren, aber das war bei Timur nicht nur undenkbar, sondern auch vollkommen unnötig. Timur war der Herr der Glückskonjunktion, ein großer weiser Mann, der die tiefere Ordnung der Welt zu erkennen vermochte. Und wenn der Herrscher alles erkennt und versteht, dann braucht man ja auch kein Beschwerderecht mehr.
Aber vielleicht fangen wir mal damit an, besagten Timur ein wenig vorzustellen. Auch Markus sprach eingangs von einem Blick in eine Welt, die thematisch und räumlich „nicht für jeden so naheliegt“. Timur, auch bekannt als Timur der Lahme, Timurlenk oder englisch Tamerlane, lebte von 1336 bis 1405, und in seinen knapp 70 Lebensjahren kam er ganz ordentlich herum. Seine Armee siegt von Ankara bis Delhi, der Nimbus der Unbesiegbarkeit seiner Armee ließ auch Konstantinopel und Venedig um ihre Existenz bangen. Das Ergebnis aller Schlachten war ein großes Reich, das im heutigen Iran und Mesopotamien sein Zentrum hatte, und ein immer noch beeindruckendes Mausoleum in Samarkand, das Markus an den Anfang seines Vortrags stellte. Das Mausoleum hat Timur noch zu Lebzeiten bauen lassen, und das war dann auch schon das einzige, was von seinem Reich blieb. Es zerfiel nach seinem Tod ziemlich rasch, und dass Timur neuerdings als Vater der usbekischen Nation eine späte Auferstehung feiert, hat wohl mehr mit den Notwendigkeiten des „nation-buildings“ zu tun als mit realen Traditionslinien. Wenn Usbekistan sich wirklich Timurs Erbe verpflichtet fühlte, müsste es eigentlich schleunigst mit einer aggressiven Expansionspolitik anfangen, und davon haben wir in der heutigen Welt doch wirklich mehr als genug.
Timur war ein Krieger. Davon hörte man im Vortrag allerdings nicht allzu viel, denn der drehte sich um die Herrschaftsphilosophie. Im Ploetz kann man nachlesen, wie Timurs Kriegszüge Vernichtung und Zerstörung hinterließen sowie Schädelpyramiden, aber letztere erwähnte Markus erst in der Diskussion. Anscheinend hat Timur die Schädel nicht nur aufgetürmt, sondern auch auf seinen Feldzügen mitgeführt und im Bedarfsfall ordentlich drapiert als Warnung an den Feind: Wollt Ihr wirklich kämpfen, wo ihr doch seht, wie das endet? Für Markus war das ein Akt der Ressourcenschonung, was mir als Umwelthistoriker deutlich machte, dass man halt auch beim schonenden Umgang mit Ressourcen immer auf den Kontext achten muss.
Wer mehr über Timur lesen möchte, sei auf die Literatur verwiesen, die Markus in seiner PowerPoint-Präsentation recht üppig einbaute. (Die Präsentation steht auf der Moodle-Seite der Ringvorlesung zum Download bereit.) Wenn ich Markus richtig verstanden habe, ist das vielleicht beste Buch Tilman Nagels „Timur der Eroberer und die islamische Welt im Mittelalter“ von 1993. Nagel spricht davon, dass Timur eine „kaum erträgliche Unsicherheit der politischen Verhältnisse“ bewirkt habe sowie einen „Zusammenbruch jeglicher übergreifenden, nicht auf persönlichen Bindungen beruhenden Ordnung“. Das ist wichtig als Hintergrund für jede Diskussion um die Legitimation seiner Herrschaft, denn die Schlüsselfrage nach deren Geltung ist letztlich kaum zu beantworten. Haben die Menschen das wirklich geglaubt? Es gab noch keine Meinungsumfragen und auch sonst wenig Dokumentation von alltagskulturellen Äußerungen, und natürlich reden wir von einer Gesellschaft, in der Schriftkunde das Privileg einer Minderheit war. Und wie glaubwürdig kann eine Herrschaftsideologie sein, wenn ein Krieger mit mächtigen Reiterhorden und Schädelpyramiden durch die Landschaft zieht?
Zunächst folgte Timurs Weg zur Macht dem klassischen Muster des Gewaltherrschers. Er stammte aus dem Stamm der Barlas, baute eine Armee auf, die die Goldene Horde besiegte und Teile der mongolischen Gebiete eroberte. Er heiratete Saray Mulk Khanum aus dem Geschlecht von Dschingis Khan, und man kann sich unschwer vorstellen, wie das später im Hause Habsburg gefälliges Nicken hervorrief: Ja, so machte man das. Mit dem kleinen Unterschied, dass mit dem Erbe Dschingis Khans auch eine gewisse Verpflichtung zu großräumigen Eroberungen einher ging. Timur starb auf dem Weg nach China, das er auch noch erobern wollte.
Sie merken es schon: Ich drücke mich hier ein wenig darum, Timurs Herrschaftsphilosophie im Detail zu beschreiben. Anscheinend war ich auch nicht der einzige Zuhörer, der mit dem Ideenkonglomerat fremdelte. Jan de Graaf fragte nach, wie man die Glückskonjunktur denn verstehen sollte. Ist eine geordnete Gesellschaft dann reine Glückssache? Tja, Glück ist ein durchaus schillerndes Konzept, aber hier ging es anscheinend nicht um Glück im Sinne von Glückseligkeit, sondern um eine Person, die in einer planetarischen Konjunktion geboren wurde, die versprach, dass diese Person zum Weltenherrscher wurde. Es war mithin keine soziale, sondern eine individuelle Errungenschaft.
Die Herrschaftsideologie war durchaus eklektisch. Da gab es die Sternendeuterei (einschließlich kosmologisch adaptiertem Geburtsdatum, weil es sonst halt nicht hinhaute mit Jupiter und Saturn), eine Sure aus dem Islam, es gab den erwähnten Dschingis Khan und Referenzen an Alexander den Großen. Da möchte man fast schon fragen, ob es da noch etwas im Sonderangebot gab. Das Römische Reich war immerhin nicht im Spiel, obwohl Konstantinopel gar nicht so weit von Timurs Reich entfernt war. Das war dann doch zu sehr im Westen und vielleicht auch zu christlich. Timur war Muslim.
Vielleicht waren die Zutaten ja auch weniger wichtiger als der Bezugspunkt. Die Herrschaftsideologie war streng personalistisch. Timur konnte als Herr der Glückskonjunktion die tiefere Ordnung der Welt erkennen und besagte Welt entsprechend gestalten. Dahinter stand eine Schule des Sufismus, die gegenüber der damaligen muslimischen Orthodoxie die Handlungsfreiheit des Menschen betonte: Den klugen Herrscher, der alles harmonisch zusammenfügt, brauchte man ja nur, wenn man Ordnung nicht nur als Werk Gottes sah, die keinerlei menschliche Initiative erforderte. Es war, kurz zusammengefasst, ein grandioser Akt der Weisheitsprojektion, und Weisheit ist halt immer individuell und nicht einfach vererbbar. So blieb Timurs Herrschaftsideologie anscheinend ein Projekt für eine einzige Generation, ja einen einzigen Mann, obwohl Markus ein Fortwirken bei den Mogulreich andeutete. Die Glückskonjunktion tauchte im 16. Jahrhundert bei den Osmanen wieder auf, da aber rein militärisch gedacht ohne die transzendentale Dimension.
Für mich klang das schon arg nach dem, was Amerikaner als „kitchen sink approach“ bezeichnen: Man schnappt sich halt, was so an Ideologemen auf dem Markt (oder im Ausguss) verfügbar war, um davon abzulenken, dass alles letztlich auf der Bereitschaft und Befähigung zu brachialer Gewalt beruhte. Außerdem scheint die Herrschaftsideologie erst recht spät formuliert worden zu sein, als Timur schon ein fortgeschrittenes Alter hatte. Vielleicht schwang in der Verehrung des weisen Herrschers ja stets mit, dass es der Mann wohl nicht mehr lange machen würde und die Karten nach seinem Tod neu gemischt würden?
Vielleicht ist das ja alles zu zynisch, was ich hier schreibe. Aber pardon: Wer mag im 21. Jahrhundert noch mit Inbrunst an Herrschaftsideologien glauben? Wir stehen ja alle unter dem Eindruck eines ständigen Stroms peinlicher Ergebenheitsadressen am Hofe Donald Trumps, hinter denen jeder unabhängige Beobachter den rauen Charme von Geld und Macht erkennt. Aber auch ein Berufszyniker kann aus dem jüngsten Vortrag mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass wir vielleicht mehr über den Menschen und die Macht reden müssen, und zwar jenseits des archaischen „große Männer machen Geschichte“. Man kann die Geschichte Zentralasiens um 1400 halt wirklich nicht ohne Timur und seine projizierte Herrschaftsideologie denken. Der Mann hatte einfach etwas. Und es waren vielleicht nicht nur die Schädelpyramiden.
14. November
Am Dienstag habe ich mal wieder gemerkt, dass ich nie nie nie Migrationsgeschichte machen sollte. Ich komme da einfach nicht aus meiner Haut. Nach zehn Jahren in England gibt es da einen dicken Firniss Lebenserfahrung, und nein, das hatte ich mir so nicht gedacht. Als ich 2013 nach Birmingham zog, fühle ich mich noch gut vorbereitet. Ich hatte einige Zeit in den USA gelebt und meine Frau in Schweden und Israel, das würde dann schon so ähnlich sein. Dann kam der Realitätsschock, der Brexit und die Einsicht, dass Migration sich echt anders anfühlt, wenn man kein Rückflugticket hat. Migration ist eine Urerfahrung. Muss man einfach mal gemacht haben, dann sieht die Welt anders aus.
Dem professionellen Historiker bleibt bei einem solchen Satz nur das professionelle Augenrollen. Nichts nervt mehr als ein Zeitzeuge, der auf der Überlegenheit der persönlichen Erfahrung insistiert. Man musste es halt selbst mal erleben, mein Gott. Aber wenn es doch stimmt? Laut Adorno gab es „kein richtiges Leben im falschen“, und ich werde wohl nie verstehen, warum jemand so etwas im Exil schreibt. Natürlich gibt es ein richtiges Leben im falschen, es ist halt nur ein bisschen… naja, unordentlich halt. Man lebt als Migrant mit mehr als einem Koordinatensystem, das ist manchmal anstrengend und manchmal bereichernd und meist einfach eine Notwendigkeit des Lebens. Get used to it!
So hatte ich also ziemlich subjektive Erwartungen an Michaela Hampf und ihren Vortrag „Flucht übers Meer: Maritime Migration und die Normalität historischer Un:Ordnung im 20. Jahrhundert“. Es war ein breiter Überblick der US-amerikanischen Einwanderungsgeschichte seit der Kolonialzeit. Oder soll man von einer Flüchtlingsgeschichte schreiben? Die klassische Unterscheidung von Migranten und Flüchtlingen ist inzwischen brüchig, desgleichen der Verweis auf den Nationalstaat, der als Container einfach gesetzt wird. Michaela skizzierte eine neue Migrationsgeschichte mit der Unterscheidung von glatten und gekerbten Räumen im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari als methodischem Referenzpunkt.
Das war dann schon ein wenig Parforceritt. In weniger als 50 Minuten ging es vom transatlantischen Sklavenhandel über die Underground Railroad (die Sklaven aus dem Süden in die Freiheit schleuste oder es jedenfalls versuchte) bis zu den Konflikten der Gegenwart. Da konnte man vieles nur anreißen: die maritime Dimension der Underground Railroad, das Vertragssystem von indentured labor, das Quotengesetz von 1924, den Isolationismus, die Migrationspolitik im Kalten Krieg, wo sich die USA als Hort der Freiheit präsentierten, aber auch die Hartleibigkeit gegenüber den Flüchtlingen aus Haiti. Abschließend wurde deutlich, wie sehr Migrations- und Flüchtlingspolitik inzwischen von der US-amerikanischen Innenpolitik bestimmt wird. Außerdem gab es noch ein bisschen Audio zur Entspannung: Meeresrauschen. Das Maritime war hier jedenfalls prominenter als in anderen Migrationsgeschichten.
Das zeigte sich auch im Bezug auf Deleuze und Guattari. Da geht es ja, wenn ich es richtig verstehe, um Räumlichkeit und ihre Ordnung. Glatter Raum ist offen und ungeregelt, gekerbter Raum ist gerastert und geordnet. Das analytische Potential des Ansatzes hätten wir vielleicht in der Diskussion vertiefen sollen, so bleiben mir hier nur die skeptisch grundierten Nachgedanken. Deleuze arbeitete mit Michel Foucault zusammen, und es läuft nach meinem Eindruck wieder mal auf jene Gesichtslosigkeit hinaus, die ich auch bei Foucault und seinen Epigonen immer wieder unbefriedigend finde: Menschen als bloße Spielbälle von anonymen Diskursen oder halt bei Deleuze und Guattari von räumlichen Ordnungen. Wo bleibt da die individuelle Erfahrung, das individuelle Erleben, die eigenen Sinnwelten? Ja, ich weiß, da spricht der Migrant.
Vielleicht verführt die Frage nach Dis:Order ja zum Blick von oben? Das ist natürlich gerade bei Migration ein sehr wichtiger Aspekt, jedenfalls da, wo man es mit starken Nationalstaaten zu tun hat. Wenn man die US-Einwanderungsgeschichte mit Michaela Revue passieren lässt, fällt doch auf, wie sehr die amerikanische Regierung nach eigenem Gutdünken bestimmen konnte, wer hereinkommt und wer nicht, und das ist vielleicht nicht nur der geographischen Lage geschuldet, wo für potentielle Einwanderer zunächst ein Meer zu überwinden war. Unkontrollierte Einwanderung aus dem Süden wird für die USA erst nach 1945 eine relevante Größe, und jeder sollte wissen, dass der damit verbundene Kontrollverlust erst mal eine rassistische Fiktion ist. Die illegalen Einwanderer sind schließlich in ihrer überwältigenden Mehrzahl brave Arbeiter: Sie ernten Agrarprodukte, schuften in Schlachthäusern, betreuen Kinder, machen Wohnungen und Büros sauber, alles in stiller Arbeit für die harten Dollars. Man muss auf Migranten in den USA nicht draufhauen, aber man kann. Zu sehen derzeit in jeder neuen Meldung aus dem Weißen Haus.
Mit Deleuze und Guattari kann man Trumps Einwanderungspolitik als eine neue Kerbung in einem ständigen Prozess von Glättungen und Kerbungen betrachten, der nach Michaela als instabiler Normalzustand gelten soll. Das ist quasi die Dis:Order der Migrationsgeschichte. Aber vielleicht geht ein solcher Blickwinkel doch zu sehr auf Kosten des politisch-moralischen Urteils? Ich habe in meinem Eingangsvortrag zur Klarheit über politische Obertöne aufgefordert, und da bleibt mir gegenwärtig nicht viel Raum für Ambivalenzen. Was derzeit mit MigrantInnen in den USA passiert, ist rassistisch, unmenschlich und auch noch wirtschaftlich desaströs.
Man könnte über all dies leichter sprechen, wenn sich die deutsche Geschichtswissenschaft in dieser Frage nicht schon politisch-moralisch eingemauert hätte. Auf dem Historikertag 2018 wurde eine Resolution beschlossen, die den vielzitierten Satz enthielt: „Ungeachtet aller mit ihr verbundenen Probleme hat sie die beteiligten Gesellschaften insgesamt bereichert – auch die deutsche.“ Das zeigte sehr schön, dass es auch bei Resolutionen einen wichtigen Unterschied gibt zwischen „gut“ und „gut gemeint“. Auch Michaela schien sich mit einer nüchterneren Sicht auf Migration wohler zu fühlen. Es ist ein Phänomen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, das man erst mal nicht positiv aufladen sollte. Damit kann auch der hiesigen Chronist leben, auch mit Blick auf seine Migrationserfahrung.
Aber vielleicht darf ich zum Ende doch noch einmal auf die Bedeutung von Eigenerzählungen kommen. Die habe ich als Migrant – natürlich bei mir in der Luxusvariante des gut bezahlten Akademikers, der nie die Abschiebung fürchten musste und nie seinen Pass verlor. Und solche Eigenerzählungen müssen ja nicht zwangsläufig in einem grenzenlosen Wirrwarr subjektiver Narrative enden. Für mich ist ein Grundproblem der amerikanischen Migrationspolitik, dass viele Einwanderer nie eine solide partizipative Demokratie erlebt haben. Der Staat als Partner beim Lösen von Problemen – das gehört für viele Migranten nicht zum Erwartungshorizont, und ihre Behandlung in den USA löst da auch eher die entgegengesetzten Impulse aus. Als Migrant möchte man den Staat erst mal lieber auf Distanz halten und kommt nicht so leicht auf die Idee, dass man da irgendwelche großen Ansprüche hätte. Was echt fatal ist, wenn die Leute dann nicht zur Wahl gehen und folglich ein Trump mit Mehrheit gewählt werden kann.
So bleibt am Ende der Gedanke, dass wir auch bei der Migrationsgeschichte eine Kritik der „neuen Kuscheligkeit“ brauchen – und dass wir diese Kritik mit dem Dis:Order-Paradigma vielleicht besser formulieren können. Einwanderer können eine Bereicherung sein, aber bevor wir mit solchen versöhnlichen Einschätzungen den Vorhang fallen lassen können, muss erst mal Unordnung bewältigt werden – wohlgemerkt: bewältigt, nicht beseitigt. Dazu muss man jedoch – historiographisch wie gegenwärtig – erst mal verstehen, wie die Ordnungssysteme aussehen und wo es knirscht. Da gibt es eine Menge Aufgaben, auch für beginnende Forschungsprojekte wie jenes, das Michaela präsentierte. Wir warten gespannt!
2. November
Eine Ringvorlesung sollte eigentlich durch Vielfalt bestechen. Da wird es höchste Zeit, nach zwei umwelthistorisch inspirierten Vorträgen mal ganz was anderes zu machen. Wir springen nicht nur zu einem neuen Thema, sondern auch mal eben zweitausend Jahre zurück und verlassen damit den Kokon der modernen Geschichte, in dem wir uns bislang bewegt haben. Christian Wendt spricht in der dritten Sitzung über die Suche nach einer Friedensordnung im Griechenland des vierten Jahrhunderts vor Christus. Zum Themenwechsel gehört auch ein etwas anderer Tonfall. Dieser Eintrag redet nicht über tastende Annäherungen an ein Thema, sondern über das, was Christian sagen wird und was ich darüber denke. Das ist allerdings auch den Umständen geschuldet: Dieser Eintrag wurde vor dem Vortrag geschrieben. Ich bin nämlich am kommenden Dienstag nicht in Bochum.
Wenn Christian Wendt seinen Vortrag hält, schlafe ich hoffentlich irgendwo in der koreanischen Provinz meinen Jetlag aus. Das ist eigentlich mein ganz privates Problem, aber wenn man aus dem Osten Asiens auf die alten Griechen schaut, dann wirkt unsere geliebte Antike schon ziemlich mickrig. Etwas salopp gesprochen: Zivilisation gab es in China schon zu einer Zeit, als sie in Attika noch auf den Bäumen saßen. Aber das Argument für die griechische Antike sind ja seit jeher die Ideen, von denen sich Linien in die europäische Moderne ziehen lassen, und darum geht es auch bei Christian. Im Mittelpunkt steht der Moment, in dem erstmals der Gedanke der Multilateralität in Vertragsform gefasst wurde.
Wir sind in der Zeit nach dem Peloponnesischen Krieg. Sparta hat gewonnen und sucht nach einer Friedensordnung, die Stabilität verspricht, ohne das Erreichte aufs Spiel zu setzen. Ein möglicher Weg: Der Sieger macht sich kleiner, als er eigentlich ist, und da sind vertragliche Regeln ein parater Weg. Hinzu kam im vierten Jahrhundert vor Christus eine Garantiemacht, und das sind die Perser. Ausgerechnet, möchte man sagen, denn besagte Perser hatte man ja vor nicht allzu langer Zeit mit einem großen Kraftakt aus Griechenland herausgehalten.
Die Idee, Frieden mit Verträgen abzusichern, kommt dem Neuzeithistoriker durchaus bekannt vor. Auf einem Workshop im Mai zog Christian die Linie zu den 14 Punkten, mit denen Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg eine stabile neue Weltordnung schaffen wollte. Mir scheint inzwischen die US-amerikanische Hegemonialpolitik nach 1945 die bessere Referenz zu sein, zumal die ja schon einige Zeit für Stabilität sorgte. Amerika hatte nach 1945 die mächtigste Militärmaschinerie der Welt und war die bestimmte wirtschaftliche Großmacht, schaffte es aber trotzdem, Länder ohne unmittelbaren Zwang in seinen Orbit zu ziehen, einfach weil sie ein gutes Angebot machten. Das gilt nicht nur in Europa. Wie gesagt: Ich schreibe all dies mit freundlichen Grüßen aus Südkorea, und dieses Land entwickelte sich nach dem Koreakrieg auch deshalb so rasant, weil die amerikanische Hegemonie nicht auf schlichte Ausbeutung hinauslief, sondern auf einen Möglichkeitsrahmen, in dem sich unternehmerische Initiative entfalten konnte.
Wenn ich Christian beim Vorgespräch richtig verstanden habe, war die Stabilität der Friedensordnung im antiken Griechenland eher das, was Engländer einen „mixed bag“ nennen. Da sind wir an einem wichtigen Punkt für das Reden über Ordnung und Unordnung: Wie redet man über Innovationen, denen jegliche Strahlkraft abging, die aber auch nicht folgenlos waren? Durchwachsene Erfolge sind ja welthistorisch eher die Regel als die Ausnahme, aber schon die Formulierung legt Ernüchterung nahe: war halt kein richtiger Erfolg. Aber wie will man beweisen, dass ein strahlender Erfolg tatsächlich im Rahmen der Möglichkeiten lag? Zumal ein durchwachsener Erfolg ja manchmal schon ganz gut ist. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir würde es schon gefallen, wenn es in der Ukraine mal wenigstens einen Waffenstillstand gäbe.
Erfolgsgeschichten sind in der historischen Forschung nicht allzu beliebt. Aber vielleicht ist das ein Beißreflex, den wir mal kritisch überdenken sollten? Es stammt nach meiner Einschätzung aus den 1970er Jahren, als man Distanz zum Staat als autoritärem, militaristischem, demokratisch unzugänglichem Moloch hielt, wenn man ein kritischer Zeitgenosse war. Da ist inzwischen Differenzierung angesagt. Wenn es um die Zähmung des Kriegerischen im Menschen geht, ist staatliche Politik eine der besseren Optionen. (Übrigens auch für Gegenkräfte zum ungebremsten Kapitalismus, aber das ist eine andere Baustelle.) Sollte man da nicht nach Worten suchen, die Leistungen des Leviathan zu würdigen, wissend, dass Sie weder perfekt noch frei von Nebenwirkungen sind? Das ist nicht nur ein Thema der historischen Narration. Wir werden die freiheitliche Demokratie nicht retten können, wenn wir nicht Menschen überzeugen, dass sie Erfolge liefert.
Man kann die Geschichte der antiken Griechen natürlich auch mit einer Portion Zynismus schreiben. Sie beherrschten halt die Kunst, die Strahlkraft von Ideen durch einen unverschuldeten vorzeitigen Exitus zu erhalten. Die Sache mit der Friedensordnung erledigte sich, als Theben die Spartaner besiegte, dann kamen die Mazedonier und irgendwann später die Römer, und die hatten ihre eigenen Ideen über Krieg und Frieden. Da liegt die kontrafaktische Spekulation nahe: Was wäre eigentlich passiert, wenn sich die Friedensordnung ein volles Jahrhundert lang hätte bewähren müssen?
So bleibt am Ende die Feststellung, dass wir uns hier vielleicht doch vorantasten müssen, auch hier. Aber vielleicht liest Christian ja vorher diesen Blog, liefert dann im Vortrag oder spätestens in der Diskussion klare Thesen, und das Tasten hat ein Ende. Schon irgendwie schade, dass ich am Dienstag nicht dabei bin.
30. Oktober
Nach der ersten Sitzung hatte ich von einem tastenden Vorgehen gesprochen. Da haben wir uns in der zweiten Vorlesung gleich mal weiter vorangetastet. Im Untertitel ihres Vortrags versprach Sandra Maß „Perspektiven für eine Geschichtsschreibung im 21. Jahrhundert“, da ahnte man schon, dass es auf einen zweiten Einführungsvortrag hinauslaufen würde, und dazu hatte sie ja auch jedes Recht. Wir kommen in dieser Ringvorlesung nicht vorwärts, wenn wir nicht auch immer unseren eigenen Standpunkt reflektieren – methodisch, theoretisch, politisch. Das dürfen alle Referent:innen so lang oder so kurz vertiefen, wie sie das für angemessen halten. Hinzu kommt bei Sandra noch ein institutionelles Argument. Sie gehört zu dem Dreierteam, das unseren Forschungsschwerpunkt locker koordiniert. Der Dritte im Bunde, Christian Wendt, ist übrigens in der kommenden Woche dran.
Wir sind drei Forscher mit durchaus unterschiedlichen Arbeitsfeldern, Temperamenten und Vortragsstilen. Das fiel allerdings nicht unbedingt allen auf, denn manches klang schon ein wenig nach Groupthink. Sandra fügte in ihre knapp bemessene Zeit sogar einen „Werbeblock“ (ihre Worte) für die Umweltgeschichte ein, was ich als Professor für Technik- und Umweltgeschichte naturgemäß gerne hörte, aber auch etwas sorgenvoll mit Blick auf das Publikum vernahm. Wir ermahnen unsere Studierenden ja ständig zum kritischen Denken, und das klang dann schon verdächtig nach Absprache – war es aber nicht. Zum Glück redet Christian Wendt kommende Woche über Krieg und Frieden, ein ganz klassisches Thema der Geschichtsschreibung. So bleibt es immerhin glaubwürdig, wenn ich davon spreche, dass wir hier die Einheit der Geschichtswissenschaft kultivieren.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Frage nach Dis:Order in der umwelthistorischen Forschung besonders verfängt. Zu den Urerfahrungen jedes Umwelthistorikers gehört die Eigenlogik des Ökologischen: Wenn Tiere ihre Instinkte ausleben oder Krankheitserreger sich vermehren, dann geschieht das unter völliger Missachtung all dessen, was menschliche Sprache hervorbringt. Das wirkt dann nach menschlichen Maßstäben ziemlich schnell ziemlich unordentlich, auch und gerade dann, wenn die Kräfte der Natur die Rhythmen und Kausalitätsbeziehungen vorgeben. Umweltgeschichte ist, wie Sandra betonte, auch eine Art Schulungskurs in Interdependenz-Geschichtsschreibung. Hinzu kommt der prekäre institutionelle Status der Umweltgeschichte, bei dem wir uns nie auf Planstellen ausruhen können. Da merkt man schneller, wenn die Dinge nicht mehr so recht passen, so ähnlich wie weiland die Kanarienvögel in der Kohlenmine. Okay, das war es aber jetzt endgültig mit der Eigenwerbung.
Das Anthropozän nahm in Sandras Vortrag großen Raum ein, insbesondere das Anthropozän der Erdsystemwissenschaften und die allseits bekannten Schäden etwa in Form riesiger Waldbrände. Aber letztlich erschien das Anthropozän hier weniger als Diagnose denn als Forschungsfrage, als ein neuer Blickwinkel auf ein welthistorisches Drama mit einem erweiterten Kreis von Akteuren. Da relativiert sich menschliche Handlungsmacht, von menschlicher Suprematie mal ganz zu schweigen, und da braucht es neue Konzepte. Sandra warb für Kontamination, natürlich streng wissenschaftlich und im Kielwasser der Anthropologin Mary Douglas, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass wir Verunreinigung als kulturellen Topos mit sehr flexiblem materiellem Gehalt zu lesen gelernt haben. Schmutz ist eine Verletzung von Ordnung und dessen Beseitigung ein Versuch, Umwelt zu organisieren.
In diesem Sinne warb Sandra für eine kontaminierte Geschichte. Das zentrale Instrument einer solchen Geschichtsschreibung war die Relationierung: Die Frage nach Verschmutzungen setzt Dinge in Beziehung, auch und gerade jene, die sich menschlichem Wünschen und Wollen entziehen, und bei konsequenter Anwendung sprengt Relationierung die disziplinären Silos von innen auf. Ganz knapp skizzierte sie am Ende am Beispiel von Xenotransplantationen, wie viele Fäden sich mit einem Schweineherz verbinden können und wie viele Wege die Analyse damit beschreiten kann. Das sieht Sandra als Alternative zum Metanarrativ der konvergierenden Krisen.
Wer am Dienstag dabei war, hat das alles natürlich viel lebendiger erfahren dürfen. Auch Blog-Einträge stehen in der Gefahr, Ordnung zu suggerieren, wo sie realiter nicht war. Vielleicht braucht es auch eine Kritik der Sequenzialität, die jeder historischen Erzählung innewohnt, der linearen Ordnung, die durch das Aufeinanderfolgen von Worten und Sätzen unvermeidlich entsteht? Auf einer Folie deutete Sandra eine rhizomatisch inspirierte globale Familiengeschichte an, die mit Sprechblasen und Textboxen operiert und vielleicht noch anderen Dingen, die den komplexen Verflechtungen einer Großfamilie gerechter werden als klassische Geschichtsschreibung. Da waren wir also wieder an den Grenzen der Sprache, vermutlich nicht zum letzten Mal in dieser Ringvorlesung, und es passte ins Bild, dass ich bei der Gelegenheit ein neues Wort lernte: verzittern. Sandra will nämlich in ihrer Geschichte „zittern lassen, was sich verzittern lässt“.
Jan de Graaf wies in der Diskussion auf die Grenzen des narrativen Revolutionseifers hin. Die neue Geschichte im Anthropozän nutzte ja offenkundig Konzepte wie Migration, die wir schon kennen. Eine rhizomatische Geschichte sollte auch nicht im ewigen Spiel der immer neuen Wechselbezüge erschöpfen: Ausdrücklich will Sandra Erklärungen, die „bestimmte Elemente von Kausalität reflektieren“. Aber braucht es dazu nicht auch die Fähigkeit zu gewichten, also die Unterscheidung von flüchtigen, zufälligen Interdependenzen und jenen, die substantielle Wirkungen haben? Kontaminierte Geschichte ist auch ein Weg, von simplen Ursache-Wirkungs-Relationen wegzukommen und dem radikalen Entweder-Oder. Wer kann schon sicher sagen, wo es hinführt, wenn man nach dem Fleck fragt.
Beim Anthropozän der Erdsystemforschung ist alles wunderbar klar. Es gibt klare Wechselbeziehung, solide quantifiziert und modelliert, und so mancher Geisteswissenschaftler klammert sich da am Anthropozän fest wie der Trinker an der Laterne: endlich mal etwas, das sich diskursiv nicht auflösen lässt. Da war Sandras Vortrag ein wichtiger Impetus in der Gegenrichtung: seid Euch nie zu sicher! Aber wie weit will man das treiben? An der Kausalität hängt ja auch die Frage nach Verantwortung, und die gehört (jedenfalls für den hiesigen Blogger) zu den unverzichtbaren Kategorien kritischer Geschichtsschreibung. Eine historische Erzählung, in der Verantwortung diffundiert, ist für mich unverantwortlich.
Aber da sind wir ja schon wieder beim Entweder-Oder. Vielleicht ist historische Forschung auch ein Weg, mehr Respekt für das Qualitative einzufordern, für das Nicht-Quantifizierte und Nicht-Quantifizierbare. Sandra bezog sich auf das Konzept der Resilienz, dessen Charme ja nicht zuletzt darin besteht, dass es nur bis zu einem gewissen Punkt modellierbar und messbar ist. Ein Naturwissenschaftler sagte mir vor ein paar Jahren im Gespräch: Resilienz muss man glauben. Sollen wir Historiker da wirklich einen auf methodischen Rigorismus machen? Resilienz ist mysteriös und das Netz des Lebens erst recht. Aber wie viele Mysterien verträgt wissenschaftlich fundierte Geschichtsschreibung?
22. Oktober 2025
Es ist nicht leicht, den Eröffnungsvortrag einer Ringvorlesung zu halten, aber es gibt schwierigere Aufgaben. Wie schreibt man zum Beispiel einen Blog-Eintrag über einen Eröffnungsvortrag, den man selbst gehalten hat? Wie man es auch dreht, aus der inhärenten Peinlichkeit dieses Blog-Beitrags gibt es wohl keinen echten Ausweg, aber da bleiben ja immer noch größere Peinlichkeiten. Gestern gab es nach dem Vortrag eine offene Diskussion, und die erste Frage war, ob es denn da schon ein mustergültiges Buch gäbe, das Wege des Umgangs mit Ungewissheiten aufzeigt. Als ehrlicher Mensch habe ich auf „Im Strudel“ verwiesen, im englischen Original „The Vortex“, eine Umweltgeschichte der modernen Welt, geschrieben von, genau, yours truly. Was blieb mir auch anderes übrig?
Da konzentriere ich mich an dieser Stelle am besten auf die Chronistenpflicht. Es war ein Eröffnungsvortrag der anderen Sorte: keine kanonischen Leitfragen, sondern ein tastendes Umkreisen des Gegenstands und vor allem ein Nachdenken über das, was es eigentlich braucht, um Unordentlichkeit als methodische Herausforderung für Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert ernst zu nehmen. Der Sommer ist ja Konferenzsaison, und da wunderte mich schon, wie selbstbewusst viele Kolleginnen und Kollegen in ihren Vorträgen auftraten, so etwa auf dem jüngsten Historikertag in Bonn. Zugegeben: Der Historikertag ist eine große Bühne, da will man souverän wirken – aber vielleicht besteht der souveräne Auftritt in Krisenzeiten ja eher darin, die Ungewissheit an den Anfang des Gesprächs zu stellen. Es war in der Diskussion zu merken, dass sich die ZuhörerInnen darauf einließen. Niemand verteidigte das, was ich am Anfang als „neue Kuscheligkeit“ der Geschichtswissenschaft kritisiert hatte: die linearen Geschichten mit der klaren moralischen Essenz, die beim Deutschen Sachbuchpreis regelmäßig gute Chancen haben, die aber meist darauf basieren, dass ein paar kritische Aspekte ausgeblendet werden.
Bei der Frage, wie es anders geht, griff ich auf das klassische Instrument des Historikers zurück: die Fallstudie. Der Tod der Gewürznelkenbäume auf Sansibar stand im Mittelpunkt einer knapp umrissenen Mikrostudie, entstanden aus meinen aktuellen Forschungen über Monokulturen weltweit, und wie es sich für eine gute Mikrogeschichte gehört, wurde es richtig seltsam – auf eine Weise, die Erzählweisen und Sichtweisen herausforderte. Als sich die Geschichte im Archiv zu enthüllen begann, dachte ich manchmal an den ersten Vers aus „Bohemian Rhapsody“: „Is this the real life? Is this just fantasy?“ Freddie Mercury kam in der Geschichte schließlich auch vor.
Aber letztlich ging es in dieser Sitzung um die methodische Problematik, aufgezeigt anhand einer wilden Geschichte aus Sansibar. Wie erzählt man eine Geschichte, in der es keinen gemeinsamen Werthorizont gibt, keine zeitgenössische Gruppe, mit der man sich zumindest im Allgemeinen identifizieren könnte? Es gab in der Geschichte keine Helden, sondern nur Menschen, die durch wissenschaftliche und andere Unzulänglichkeiten brillierten, und es gab ein Knäuel von Krisen, das sich jeder Hierarchisierung entzog. Wie erzählt man da, ohne die Dinge gleich wieder narrativ zu glätten?
Es geht ganz einfach, wenn man sich in das Silo der fachdisziplinären Narrative zurückzieht. Man kann die umrissene Geschichte problemlos als epidemische Geschichte schreiben, als Forschungsgeschichte, als Geschichte einer Plantagengesellschaft oder auch als Gewaltgeschichte der Revolution von 1964: Da gibt es einen klaren Werthorizont, einen narrativen Spannungsbogen, einen legitimen chronologischen Rahmen. Nur erweist sich das alles als letztlich fiktiv, wenn man das Geschehen im gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachtet, und das macht den Rückzug in die Komfortzone der subdisziplinären Narrative letztlich unhaltbar. Als Professor für Umwelt- und Technikgeschichte verbringt man viel Zeit mit Menschen, die um die Ansätze und Anliegen ihrer eigenen Zirkel kreisen, und deshalb habe ich in diesem Punkt Farbe bekannt: Wir kommen in der Geschichtswissenschaft nicht weiter, wenn wir uns lediglich als lockeres Ensemble von Einzeldisziplinen verstehen, die immer nur um ihre eigenen Themen und Narrative kreisen. Es gibt tatsächlich nur eine Geschichte, und jeder Versuch, sie mit disziplinären Separatismen zu unterlaufen, ist letztlich intellektuelle Kapitulation ersten Ranges.
Zu diesem Punkt gab es in der Diskussion eine Intervention einer angehenden Doktorandin: Was bleibt denn dann von der klassischen Fallstudie? Ist jegliche thematische, chronologische und geographische Eingrenzung nur eine bedauerliche aber unvermeidliche Konzession an die banalen Forderungen arbeitspragmatischer Machtbarkeit? Meine Antwort bestand in einem Buchstaben, den ich mit Kreide an die Tafel malte: einem großen T. Das ist für mich das prototypische Schema einer guten Fallstudie: mit gebührender Berücksichtigung eines breiten Horizonts, aber auch der Bereitschaft, an einzelnen Punkten in die Tiefe zu gehen. Eine Fallstudie ist keine Lizenz, sich in die Details zu verkriechen.
In Sansibar bestand der gemeinsame Referenzpunkt aller Akteure letztlich in einem einzigen Objekt: der Gewürznelke. Alle wussten, wie eine gute Gewürznelke aussieht und was man kollektiv und individuell tun musste, um sie zu produzieren. Aber was bedeutet es, wenn gesellschaftliche Integration nur noch über gemeinsame ökologische und technologische Herausforderungen generiert wird? Die Eigenmacht nichtmenschlicher Handlungslogiken könnte sich in dieser Vorlesung als wesentlicher Faktor erweisen, und es ist noch nicht einmal sicher, ob dieser Faktor auf Unordentlichkeit oder eher auf gesellschaftliche Integration hinauslief. Klar ist nur: Ohne die Gewürznelken drohte der Abgrund – ohne jede Chance für diskursive Rettungsversuche. Dis:Order ist auch eine Herausforderung für Sprache als Medium des Ordnens.
Reicht das als Eröffnungsvortrag? Die Frage ist müßig, denn der Titel des Vortrags von Sandra Maß in der kommenden Woche klingt erneut programmatisch-ambitioniert: Perspektiven für eine Geschichtsschreibung im 21. Jahrhundert. Da freut man sich als Koordinator einer solchen Ringvorlesung: Ich bin nicht der einzige, für den es hier um Grundfragen unseres Faches geht. Vielleicht wird das ja die Gretchenfrage für die HistorikerInnen unserer Zeit: Wie hältst Du’s mit der Ordnung?
17. Oktober 2025
Am kommenden Dienstag beginnt sie also: die Ringvorlesung „Dis:Order“. Als erster Referent darf der Autor dieses Blogs seine Überlegungen präsentieren, und da erübrigen sich in dieser Vorbemerkung programmatische methodische Ausführungen. Die gibt es dann nächste Woche in genau jener Dosis, die ich für angemessen halten. Deshalb beschränke ich mich hier auf ein paar Bemerkungen zur Ringvorlesung als Veranstaltungsform, die vielleicht schon deshalb ratsam sind, weil solche Ringvorlesung in der deutschen Universität nicht alltäglich sind. Ich kann mich während meiner Studienzeit, die immerhin sieben Jahre und drei Universitäten umfasste, nur an eine einzige Ringvorlesung erinnern, und die gab es gleich am Anfang. Als ich im Wintersemester 1990/91 mein erstes Semester an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau begann, hörte ich ziemlich schnell von der Ringvorlesung des Historischen Instituts, verbunden mit dem dringenden Hinweis: Da gehen Sie mal besser hin. Und als Erstsemester ist man ja noch ein folgsames Wesen.
Es war dann tatsächlich eine gute Gelegenheit, die Historiker der Freiburger Universität kennenzulernen. (Ein Semester später verließ ich Freiburg und wechselte nach Bielefeld, aber das ist eine andere Geschichte.) Im Mittelpunkt stand die deutsche Geschichte. Es war das erste Semester nach der Wiedervereinigung, und da lag es nahe, die Frage nach dem, was deutsche Geschichte ausmacht, einmal von der Antike bis ins 20. Jahrhundert zu verfolgen. Von der bundesdeutschen Konsensgeschichte, die sich um die Jahrtausendwende etablierte, war da noch nicht viel zu erahnen, und das nicht nur, weil ein Professor doch tatsächlich den verlorenen Ostgebieten nachtrauerte. Es war doch sehr akademisch, eher an den jeweils eigenen Forschungsinteressen orientiert als an den Herausforderungen der Gegenwart, und es war ziemlich männlich. Ich kann mich an keine weibliche Referentin erinnern, sondern nur an eine Nachwuchswissenschaftlerin, die eine kluge und ziemlich freche Frage stellte. Das war Ingrid Gilcher-Holtey, die ich dann später in Bielefeld wiedertraf.
Da läge es nahe, die kommende Ringvorlesung zum Kontrastmodell zu erklären. Bei uns reden auch Frauen, es dürfen auch Menschen ohne Professorentitel reden und Fragen stellen (damals war die erste Fragerunde nur für Privilegierte offen), und uns interessiert heute neben Deutschland auch der Rest der Welt. Aber damals wie heute geht es um ein Thema, das nicht nur ein historiographisches Anliegen war. Die Frage nach der Unordentlichkeit der Welt ist eine offenkundige Reaktion auf eine Gegenwart, in der moralische und politische Gewissheiten zerfließen. Aber wie können historische Interpretationen aussehen, die historische Unbestimmtheit nicht mit linearen Erzählweisen glätten und der Komplexität und Vielschichtigkeit historischer Realitäten gerecht werden, ohne sich darin zu verlieren? Wieviel Gewissheit sollten historische Darstellungen zu vermitteln suchen, wenn in Krisenzeiten das Interesse an der Orientierungsfunktion der Geschichte erwacht? Und wieviel intellektuelle Ordnung verträgt das Reden über „Dis:Order“?
Anders als vor 35 Jahren steht damit nicht ein Thema im Mittelpunkt, sondern eine methodische Herausforderung mit politischen Obertönen. Wir werden in dieser Ringvorlesung nicht durchkommen, wenn wir nicht immer wieder die Frage nach unseren eigenen Standpunkten zulassen: konzeptionell, theoretisch, politisch-praktisch. Das geschieht hoffentlich nicht im Stil des Inquisitorischen, sondern als Suchbewegung auf mehreren Ebenen. Die emphatischen Bekenntnisse, die es bei Methodenfragen in meinen Studienzeiten noch gab, sind ja gottlob ein wenig aus der Mode gekommen, aber Überzeugungen haben wir Wissenschaftler hoffentlich weiterhin. Die Frage ist nur, wie weit wir damit kommen – und in welcher Richtung.
Zugegeben: Das sind ziemlich viele offene Fragen, und zwar ohne jede Garantie, dass sie am Ende in einer allseits befriedigenden Weise beantwortet werden. Es ist gut möglich, dass Sie am Ende der Ringvorlesung nicht nur die verschiedenen Themen unseres Kollegiums kennengelernt haben, sondern auch die verschiedenen Temperamente unserer WissenschaftlerInnen. Bei Dis:Order hängt viel an der Tonlage und dem intellektuellen Anspruch, und für beides gibt es keine überindividuellen Verbindlichkeiten. Und vielleicht ist eine gewisse intellektuelle Demut ja ohnehin keine schlechte Idee für WissenschaftlerInnen, solange es nicht in die prinzipienlose Unverbindlichkeit führt? Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang, das wir mit dieser Ringvorlesung wagen, und alle Beteiligten sind eingeladen, ins Risiko zu gehen – im Wissen darum, dass man sich dabei auch verrennen kann. Und vielleicht ist es ja auch ganz hilfreich, wenn man die Unsicherheit, vielleicht das beherrschende Gefühl unserer Zeit, nicht bloß verschämt eingesteht, sondern ganz offen an den Anfang eines wissenschaftlichen Gesprächs stellt? Zumal alles andere doch nur Bluff wäre. Zu den wohlgeordneten professoralen Welten, die ich vor 35 Jahre in Freiburg erleben durfte, führt wohl kein Weg zurück.