Blog
Um die Impulse der Vorträge über den Tag hinaus zu dokumentieren, gibt es einen Blog zur Veranstaltung. Nach jeder Sitzung präsentiert Frank Uekötter als Koordinator der Ringvorlesung an dieser Stelle eine kurze Bilanz von Vorträgen und Diskussionen, verbunden mit ein paar persönlichen Nachgedanken. Wenn Sie Nachfragen oder Kommentare zu diesen Bemerkungen haben, schreiben Sie bitte eine Email an Frank Uekötter.
17. Oktober 2025
Am kommenden Dienstag beginnt sie also: die Ringvorlesung „Dis:Order“. Als erster Referent darf der Autor dieses Blogs seine Überlegungen präsentieren, und da erübrigen sich in dieser Vorbemerkung programmatische methodische Ausführungen. Die gibt es dann nächste Woche in genau jener Dosis, die ich für angemessen halten. Deshalb beschränke ich mich hier auf ein paar Bemerkungen zur Ringvorlesung als Veranstaltungsform, die vielleicht schon deshalb ratsam sind, weil solche Ringvorlesung in der deutschen Universität nicht alltäglich sind. Ich kann mich während meiner Studienzeit, die immerhin sieben Jahre und drei Universitäten umfasste, nur an eine einzige Ringvorlesung erinnern, und die gab es gleich am Anfang. Als ich im Wintersemester 1990/91 mein erstes Semester an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau begann, hörte ich ziemlich schnell von der Ringvorlesung des Historischen Instituts, verbunden mit dem dringenden Hinweis: Da gehen Sie mal besser hin. Und als Erstsemester ist man ja noch ein folgsames Wesen.
Es war dann tatsächlich eine gute Gelegenheit, die Historiker der Freiburger Universität kennenzulernen. (Ein Semester später verließ ich Freiburg und wechselte nach Bielefeld, aber das ist eine andere Geschichte.) Im Mittelpunkt stand die deutsche Geschichte. Es war das erste Semester nach der Wiedervereinigung, und da lag es nahe, die Frage nach dem, was deutsche Geschichte ausmacht, einmal von der Antike bis ins 20. Jahrhundert zu verfolgen. Von der bundesdeutschen Konsensgeschichte, die sich um die Jahrtausendwende etablierte, war da noch nicht viel zu erahnen, und das nicht nur, weil ein Professor doch tatsächlich den verlorenen Ostgebieten nachtrauerte. Es war doch sehr akademisch, eher an den jeweils eigenen Forschungsinteressen orientiert als an den Herausforderungen der Gegenwart, und es war ziemlich männlich. Ich kann mich an keine weibliche Referentin erinnern, sondern nur an eine Nachwuchswissenschaftlerin, die eine kluge und ziemlich freche Frage stellte. Das war Ingrid Gilcher-Holtey, die ich dann später in Bielefeld wiedertraf.
Da läge es nahe, die kommende Ringvorlesung zum Kontrastmodell zu erklären. Bei uns reden auch Frauen, es dürfen auch Menschen ohne Professorentitel reden und Fragen stellen (damals war die erste Fragerunde nur für Privilegierte offen), und uns interessiert heute neben Deutschland auch der Rest der Welt. Aber damals wie heute geht es um ein Thema, das nicht nur ein historiographisches Anliegen war. Die Frage nach der Unordentlichkeit der Welt ist eine offenkundige Reaktion auf eine Gegenwart, in der moralische und politische Gewissheiten zerfließen. Aber wie können historische Interpretationen aussehen, die historische Unbestimmtheit nicht mit linearen Erzählweisen glätten und der Komplexität und Vielschichtigkeit historischer Realitäten gerecht werden, ohne sich darin zu verlieren? Wieviel Gewissheit sollten historische Darstellungen zu vermitteln suchen, wenn in Krisenzeiten das Interesse an der Orientierungsfunktion der Geschichte erwacht? Und wieviel intellektuelle Ordnung verträgt das Reden über „Dis:Order“?
Anders als vor 35 Jahren steht damit nicht ein Thema im Mittelpunkt, sondern eine methodische Herausforderung mit politischen Obertönen. Wir werden in dieser Ringvorlesung nicht durchkommen, wenn wir nicht immer wieder die Frage nach unseren eigenen Standpunkten zulassen: konzeptionell, theoretisch, politisch-praktisch. Das geschieht hoffentlich nicht im Stil des Inquisitorischen, sondern als Suchbewegung auf mehreren Ebenen. Die emphatischen Bekenntnisse, die es bei Methodenfragen in meinen Studienzeiten noch gab, sind ja gottlob ein wenig aus der Mode gekommen, aber Überzeugungen haben wir Wissenschaftler hoffentlich weiterhin. Die Frage ist nur, wie weit wir damit kommen – und in welcher Richtung.
Zugegeben: Das sind ziemlich viele offene Fragen, und zwar ohne jede Garantie, dass sie am Ende in einer allseits befriedigenden Weise beantwortet werden. Es ist gut möglich, dass Sie am Ende der Ringvorlesung nicht nur die verschiedenen Themen unseres Kollegiums kennengelernt haben, sondern auch die verschiedenen Temperamente unserer WissenschaftlerInnen. Bei Dis:Order hängt viel an der Tonlage und dem intellektuellen Anspruch, und für beides gibt es keine überindividuellen Verbindlichkeiten. Und vielleicht ist eine gewisse intellektuelle Demut ja ohnehin keine schlechte Idee für WissenschaftlerInnen, solange es nicht in die prinzipienlose Unverbindlichkeit führt? Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang, das wir mit dieser Ringvorlesung wagen, und alle Beteiligten sind eingeladen, ins Risiko zu gehen – im Wissen darum, dass man sich dabei auch verrennen kann. Und vielleicht ist es ja auch ganz hilfreich, wenn man die Unsicherheit, vielleicht das beherrschende Gefühl unserer Zeit, nicht bloß verschämt eingesteht, sondern ganz offen an den Anfang eines wissenschaftlichen Gesprächs stellt? Zumal alles andere doch nur Bluff wäre. Zu den wohlgeordneten professoralen Welten, die ich vor 35 Jahre in Freiburg erleben durfte, führt wohl kein Weg zurück.