Zehn ordentliche Thesen über Dis:Order
Die Ringvorlesung wurde im Verlauf eines institutsinternen Workshops am 28. Mai 2025 beschlossen, auf dem drei Mitglieder des Kollegiums erste Überlegungen zu möglichen Themen und Fragestellungen präsentierten. Frank Uekötter stellte auf dieser Veranstaltung „Zehn ordentliche Thesen über Dis:Order“ vor, die hier dokumentiert werden. Sie stehen damit allen Mitgliedern der Universität zur weiteren Diskussion zur Verfügung.
Die Historiker haben die Welt immer nur verschieden geordnet. Es kommt aber darauf an, die Unordnung der Welt zu verstehen.
1.
Die Frage nach Disorder läuft darauf hinaus, den Ordnungsverlust unserer Gegenwart als Rückkehr zur historischen Normalität zu betrachten. Erklärungsbedürftig ist nicht die Krisenhaftigkeit unserer Zeit, sondern die Frage, warum wir eigentlich so lange mit einer Vorstellung von Krisen als räumlich, zeitlich und thematisch eingrenzbaren Phänomenen durchgekommen sind.
2.
Die Frage nach Disorder ist vor allem dort historiographisch lohnend, wo der Akzent nicht bloß auf der Erfahrung von Ordnungsverlusten und ihren Folgen liegt, sondern zugleich der Umgang mit Krisenphänomenen in den Blick genommen wird. Die Geschichte der globalen Moderne dreht sich zu wesentlichen Teilen um die Auseinandersetzung mit Krisenursachen, -symptomen und -folgen jenseits von Vorstellungen endgültiger Lösbarkeit.
3.
Die Frage nach Disorder zielt auf eine Definition von Krisen, die das Korrosive des Krisenhaften betont. Es geht um Verluste und Defizite von Ordnungen, die nicht nur durch konkrete Folgen, sondern auch durch ihre potentiell universelle Entgrenzung Wirkung entfalten und auch auf gesellschaftliche Erwartungshorizonte durchschlagen. Krisen, die auch Vorstellungen einer anderen Welt erodieren lassen, können nicht mehr teleologisch in einem utopischen oder dystopischen Szenario aufgelöst werden.
4.
Disorder ist keine Idee, sondern eine Erfahrung. Sie ist damit nicht nur akteurszentriert, sondern auch praxisorientiert unter Einschluss der materiellen Dimensionen menschlicher Existenzen, die nur partiell zu verbalisieren sind (Essen, Atmen, Krankheit…). Sprache ist damit Symptom, aber nicht Kern des Lebens mit Disorder.
5.
Disorder lässt sich als Leitthema der modernen Geschichte nur dann sinnvoll analysieren, wenn wir funktionale Differenzierung als Grundphänomen der globalen Moderne berücksichtigen. Disorder ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, wird jedoch primär in einzelnen gesellschaftlichen Sphären verhandelt (Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung, Ernährung, Mobilität…). Jede dieser Dimensionen ist kognitiv und funktional geschlossen und sowohl in sich selbst wie im Zusammenwirken mit anderen Dimensionen von Spannungen und Widersprüchen geprägt.
6.
Der Pluralität der modernen Existenz ist seit Luhmann soziologisch diagnostiziert, wird jedoch historiographisch-narrativ immer noch nicht hinreichend ernst genommen. Zu den Gründen zählen Aktivismus im Gewand der Fachwissenschaft und ein Hang zur moralischen Monochromie, der in der bundesdeutschen Erinnerungskultur einen besonders augenfälligen Ausdruck gefunden hat.
7.
Wir brauchen eine neue Kritik der historiographischen Meistererzählungen, die Singularität und Linearität ins Zentrum rückt. Es gibt einen Pluralismus von Meistererzählungen, die alle ihre jeweils eigene moralische und politisch-pragmatische Signifikanz haben, sich jedoch gegen eindimensionales Erzählen sperren. In ihrem Zusammenspiel führt ein solcher Pluralismus konflikthafter Meistererzählungen nicht in eine postmoderne Beliebigkeit, sondern in das genaue Gegenteil: in eine sukzessive Beschränkung sinnhafter Handlungsoptionen. Moderne Gesellschaften präsentieren sich hier als ein fragiles und voraussetzungsreiches Patchwork mit bemerkenswerter und durchaus erklärungsbedürftiger Resilienz.
8.
Disorder braucht eine Geschichtswissenschaft, die den Tribalismus der sich selbst genügenden Subdisziplinen überwindet und ernst macht mit der Einsicht, dass es nur eine Geschichte und nur einen Planeten gibt. Das utopische Versprechen der histoire totale ist eine forschungsstrategische Chance, wenn wir sie als Aufforderung zur fachinternen Kooperation und zur disziplinären Selbstbeobachtung betrachten.
9.
Im Konzert der wissenschaftlichen Disziplinen verfügt die Geschichtswissenschaft über ein Alleinstellungsmerkmal: Sie ist das einzige Fach, das den ganzen Menschen ohne fachspezifisch gesetzte Rahmungen in den Blick nehmen kann. Mit der Frage nach Disorder verbindet sich auch die Frage, ob wir diese Chance nutzen.