Es ist ein Topos der Gegenwartsdiagnostik, dass wir in unsicheren Zeiten leben. Aber vielleicht ist das ja eigentlich die Rückkehr zu einer Situation, die historisch eher der Normalfall ist? Die Frage nach der Unordentlichkeit der Welt zielt auf eine unterschätzte Herausforderung für die Geschichtswissenschaft der Gegenwart, denn sie führt direkt zu Grundfragen der historischen Analyse. Nur zu leicht läuft historisches Erzählen darauf hinaus, Ordnung in eine Welt zu projizieren, die eigentlich durch deren Abwesenheit gekennzeichnet ist. Aber wie verbindet man die Linearität jeder schriftlichen oder mündlichen Darstellung mit der Komplexität einer Welt, die aus den Fugen gerät? Wie lassen sich die Gegenstände unserer Analysen definieren, wenn jede zeitliche, räumliche und thematische Eingrenzung unter Willkürverdacht steht? Was sind die zentralen Kategorien und Begriffe und nicht zuletzt der angemessene Tonfall für eine ordentliche Geschichte von Unordentlichkeit? Und was bedeutet es eigentlich für die Herausforderungen der Gegenwart, die Abwesenheit von Ordnung und Ordentlichkeit ins Zentrum zu stellen: Läuft das nicht letztlich darauf hinaus, entweder den Leviathan als Ordnungsmacht zu legitimieren oder eine Welt des homo homini lupus? Man kann die Frage nach Unordentlichkeit auch als eine Art Stresstest betrachten, ob die Geschichtswissenschaft fit für ein unkalkulierbares 21. Jahrhundert ist.

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